ENS-Europawahl-Prüfsteine: Das sagen die GRÜNEN

Die Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai wird auch über den Kurs der EU bei globalen Gerechtigkeitsfragen und der Migrationspolitik entscheiden. Das ENS wollte von sächsischen Kandidatinnen und Kandidaten der großen Parteien wissen, wofür sie stehen. Als Erste antwortete Anna Cavazzini  von Bündnis 90 / Die Grünen. Sie vertritt Sachsen auf der grünen Wahlliste und arbeitet als Referentin für Menschenrechte bei „Brot für die Welt“.

 

Was wollen Sie und Ihre Partei an der EU-Agrar-, Fischerei- und Handelspolitik ändern, um Menschen in ärmeren Ländern ein besseres Leben mit gerechten Chancen zu ermöglichen?

Anna Cavazzini: Die gegenwärtige europäische Agrar-, Fischerei-, Handels- und Ressourcenpolitik verhindert eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung im globalen Süden. Diese Politik bekämpft keine Probleme, sondern verschärft die Situation derjenigen, die am meisten unter Armut und globaler Ungerechtigkeit zu leiden haben. Wir wollen eine Wende in den Beziehungen zu Entwicklungsländern und sie als unsere Partner dabei unterstützen, lebenswerte Perspektiven für die Menschen vor Ort, besonders für die Jugend, zu schaffen und damit auch langfristig Fluchtgründe zu bekämpfen. Dies wollen wir vor allem durch eine Stärkung regionaler Organisationen erreichen. Da die Voraussetzung für gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritt oftmals die Teilhabe von Frauen ist, wollen wir gemeinsam mit unseren Partner*innen unser Engagement für Geschlechtergerechtigkeit verstärken.

Fokus unserer vertieften Zusammenarbeit ist eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung durch sozialökologische Investitionen. Dabei wollen wir besonders mit kleinen und mittleren Unternehmen zusammenarbeiten. Diese neue Partnerschaft, muss auf einem offenen und transparenten Ausgleich gegenseitiger Interessen und Forderungen sowie auf Menschenrechten basieren. Um eine nachhaltige Entwicklung im globalen Süden einzuleiten, braucht es eine kohärente Politik in der EU, die sich an der Agenda 2030 der Vereinten Nationen, am Klimaabkommen von Paris, an der Aktionsagenda von Addis Abeba und an der Agenda 2063 der Afrikanischen Union orientiert.

Eine kohärentere Politik meint vor allen Dingen: eine gerechte Handelspolitik, die den so genannten Entwicklungsländern genug Raum gibt, ihre Märkte zu schützen und nicht einseitig auf Deregulierung setzt. Und eine Agrarpolitik, die nachhaltig ist und nicht wie jetzt hauptsächlich auf Exportorientierung setzt. Die EU-Fischereipolitik muss so gestaltet sein, dass sie Fischer*innen und Fischern z.B. im Senegal nicht ihrer Lebensgrundlage beraubt.

Welche konkreten Maßnahmen wollen Sie und Ihre Partei auf EU-Ebene umsetzen, um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen?

Anna Cavazzini: Die Europäische Union ist reich an sauberen Energiequellen. Die Erneuerbaren haben weltweit 10,3 Millionen Arbeitsplätze geschaffen, davon mehr als 1,1 Millionen in der EU und über 300.000 in Deutschland. Investitionen in Erneuerbare und in Energieeffizienz sind mittlerweile der kostengünstigste Weg zu einer nachhaltigen Energieversorgung und der Garant für eine zukunftsfähige Ausrichtung der Wirtschaft.
Wir wollen eine zu 100 Prozent erneuerbare und energieeffiziente Europäische Union als Treiber für die internationale Energiewende.

Dafür muss das europäische Klimaschutzziel, das sich keineswegs auf dem Pfad der Pariser Klimaziele bewegt, ambitionierter und verbindlich werden. Bis 2030 müssen 45 Prozent von Europas Energie, die wir beim Strom, der Wärme und der Mobilität verbrauchen, erneuerbar sein, und bis 2050 müssen es 100 Prozent sein. Nur so kann Europa seinen Beitrag leisten, um die Klimakrise ein-udämmen und die globale Erhitzung auf deutlich unter 2, möglichst 1,5 Grad zu begrenzen.

Die CO₂-Emissionen müssen zudem bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden. Bei der Energieeffizienz braucht es eine Verbesserung um 40 Prozent im Ver-gleich zum Jahr 1990, um ein maximales technisch mögliches Niveau der Energieeffizienz für 2050 zu erreichen. Diese Ziele müssen wir kontinuierlich überwachen und falls nötig anpassen. Wenn der Klimawandel sich beschleunigt, ist es notwendig, schneller voranzukommen.

 

Werden Sie und Ihre Partei konkrete Schritte zur Sicherstellung der Menschenrechte in der gesamten Lieferkette von Produkten ergreifen – und welche werden das sein?

Anna Cavazzini: Handel sollte soziale Gerechtigkeit, faire Produktions- und Arbeitsbedingungen und Menschenrechte unterstützen. Menschenrechte und die Arbeitnehmerschutzrechte der Internationalen Arbeitsorganisation, also die ILO-Kernarbeitsnormen, müssen im Handel fest verankert werden, und ihre Verletzung muss einklagbar sein. Bei Verstößen muss die EU Handelsvergünstigungen auch entziehen. Die EU-Kommission setzt in erster Linie auf freiwillige Selbstverpflichtungen. Die Erfahrung zeigt: Das reicht nicht. Unsere Kleidung wird meist unter gefährlichen Bedingungen für extrem niedrige Löhne produziert.

Notwendig sind deshalb gesetzliche Sorgfaltspflichten, neue Haftungsregeln und bessere Klagemöglichkeiten innerhalb der EU – auch für Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen, die von europäischen Unternehmen verursacht werden. Wir wollen Unternehmen gesetzlich zu mehr Verantwortung und Transparenz in Bezug auf ihre Lieferketten verpflichten sowie dazu, Menschen- und Arbeiter*innenrechte einzuhalten und fairer und ökologischer Beschaffung den Vorrang zu geben. Für Textileinfuhren nach Europa wollen wir gesetzliche Mindeststandards verankern.

Innerhalb der WTO sollte die EU eine Initiative starten, die soziale und ökologische Regeln für die gesamte Lieferkette im Textilbereich verankert. Diese Regeln können dann nach und nach auf andere Sektoren ausgedehnt werden. Unfairen Wettbewerb durch Preis- oder Standarddumping wollen wir verhindern. Die letzte Reform der europäischen Anti-Dumping-Instrumente war ein wichtiger Schritt. Es ist ein Erfolg grüner Politik im Europaparlament, dass Marktverzerrung nun auch bei Verstößen gegen internationale Arbeitnehmerstandards festgestellt werden kann. Wir wollen in kritischen Bereichen strategische Infrastruktur schützen.

Handelsabkommen dürfen keine Treiber von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung werden. Wo sich Privatisierungen als Holzweg erwiesen haben, wollen wir diese rückgängig machen können. Die öffentliche Daseinsvorsorge muss umfassend geschützt werden. Kommunen dürfen in ihrer Handlungsfreiheit nicht beschränkt werden.

 

Wie wollen Sie und Ihre Partei den Tod von Flüchtenden an der EU-Außengrenze verhindern und eine humane Migrationspolitik sicherstellen?

Anna Cavazzini:  Tagtäglich sterben Menschen auf dem Weg nach Europa. Das Dublin-System, wonach Asylsuchende in dem Land Asyl beantragen müssen, das sie zuerst betreten haben, ist ungerecht, wirkungslos und gescheitert. Damit wird die Verantwortung aber weiter einseitig auf die Länder an den südlichen und östlichen Außengrenzen der EU abgewälzt, statt eine faire Verteilung der Geflüchteten in Europa zu organisieren. Oftmals werden dadurch Menschen, die lange hier leben und gut integriert sind, abgeschoben. Das steht einer gerechten Asylpolitik im Wege und soll daher vermieden werden. Menschenrechte sind unteilbar und dürfen nicht zur Disposition gestellt werden. Wir benötigen ein faires Verteilungssystem mehr denn je. Wir brauchen den Aufbau eines europäisch organisierten und finanzierten zivilen Seenotrettungssystems.

Wir treten für eine Europäische Union ein, die ihre humanitäre Verantwortung, das Grundrecht auf Asyl und den ungehinderten Zugang für Schutzsuchende und die Notwendigkeit, Verfahren nach völkerrechtlichen Standards fair, zügig und geordnet durchzuführen, zusammenbringt. Ein Europa, das Menschen, die vor Krieg, Hunger, Verfolgung und Gewalt fliehen müssen, Schutz gewährt, anstatt sich mithilfe von Autokratien und Militärdiktaturen abzuschotten. Ein Europa, das legale Fluchtwege und Einwanderungsmöglichkeiten bietet. Ein Europa, das Asylsuchenden ein faires Verfahren und eine menschenwürdige Unterbringung garantiert und seine Grenzen kontrolliert. Ein Europa, das Fluchtursachen und nicht Flüchtlinge bekämpft. Ein Europa, das das Sterben im Mittelmeer beendet.

Das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar. Auf dieser Grundlage setzen wir uns für einen gemeinsamen Aufbruch einer humanitären Koalition von Mitgliedstaaten und Kommunen ein, die zusammen die Ärmel hochkrempeln und sich solidarisch an der Aufnahme von Geflüchteten beteiligen wollen.

 

Foto: Martin Jehnichen