Ein neuer Bericht deckt auf: missbräuchliche Handelspraktiken in den Mode-Lieferketten in Europa sind nach wie vor an der Tagesordnung

Ein neuer Bericht, der im April 2023 vom Fair Trade Advocacy Office (FTAO) veröffentlicht wurde und auf einer von der Clean Clothes Campaign (CCC) Europe durchgeführten Feldforschung basiert, zeigt die Existenz unlauterer Handelspraktiken in der europäischen Bekleidungsindustrie auf. Auf der Grundlage von Interviews mit Lieferanten, Expert*innen und Gewerkschaftsvertreter*innen in sechs EU-Mitgliedstaaten – Bulgarien, Rumänien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Italien und Deutschland – wurde der Bericht „Fast Fashion Purchasing Practices in the EU. Geschäftsbeziehungen zwischen Modemarken und Zulieferern“ erarbeitet. Dieser Bericht zeichnet ein klares Bild von den unbeständigen, riskanten und unausgewogenen Handelsbeziehungen zwischen Marken und Herstellern.

Die Untersuchung zeigt einen allgemeinen Trend zur Senkung der Preise, zur Verkürzung der Vorlaufzeiten, zur Zunahme von Auftragsänderungen, zur Verlängerung der Zahlungsfristen und zur Abwälzung von „versteckten“ Kosten, wie z. B. der Produktion von Erstmustern, auf die Hersteller. Dadurch geraten die Zulieferer in finanzielle Schwierigkeiten und sind nicht in der Lage, Investitionen zu tätigen oder Löhne zu zahlen. Der Bericht befasst sich mit zwei großen Clustern der Bekleidungsproduktion in Europa: dem italienischen Modesystem und der Produktion in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa. Zu den Marken, die bei den untersuchten Herstellern einkaufen, gehören ASOS, Metro, MS Mode, Moncler und die Otto Group. Auch Luxusmarken wurden einbezogen, werden aber auf Wunsch der Untersuchungsteilnehmer*innen nicht genannt.

Die Forschung hat auch ergeben, dass schriftliche Verträge zwischen Käufern und Lieferanten selten sind, und wenn es sie gibt, sind ihre Bedingungen stark zugunsten der Marken und Einzelhändler verzerrt.Der Vertrag mit Moncler war dick wie ein Buch, sie schützten ihre Marke so sehr, dass sie, wenn sie glaubten, auch nur ein Teil zu verlieren, so viel Entschädigung forderten, dass man daran bankrott gehen könnte“, sagte ein Befragter. Ein anderer Lieferant fügte hinzu: „Wir haben ein Mitspracherecht bei den Verhandlungen, aber sie setzen uns oft unter Druck. Wir versuchen, uns zu wehren. Der Verhandlungsprozess ist lang und schwierig.“

Die Preisgestaltung ist von entscheidender Bedeutung, aber sie beginnt in der Regel damit, dass die Marke oder der Einzelhändler den gewünschten Einzelhandelspreis schätzt. Material-, Arbeits- und andere Produktionskosten werden erst danach berücksichtigt. Folglich ergab die Untersuchung eine Lücke zwischen dem, was den Lieferanten für die Arbeit gezahlt wird, und dem, was erforderlich wäre, um die Kosten der Arbeitgeber*innen zu decken, einschließlich der obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. In Italien sind dies 18 Euro pro Stunde, die den Lieferanten gezahlt werden, gegenüber stehen 24 Euro pro Stunde der Bruttokosten der Arbeitgeber*innen.

In einigen Fällen akzeptieren Lieferanten niedrige Preise, nur um die Geschäftsbeziehung aufrechtzuerhalten oder um zu überleben, manchmal ohne jeglichen Gewinn zu erzielen. Wenn Lieferanten stark von einem einzigen Abnehmer abhängig sind, ist das Risiko eines Konkurses sehr hoch. Ein solches Beispiel ist das Werk Orljava in Kroatien, das schließen musste, als die deutsche Marke Olymp im Jahr 2020 ihre Aufträge zurückzog.

Die Covid-19-Krise hat die negativen Auswirkungen des Machtungleichgewichts zwischen Käufern und Lieferanten noch verschärft, da viele Marken ihre Aufträge storniert oder ausgesetzt haben. Es sind dringend Lösungen erforderlich, um unfaire Handelspraktiken aus den Bekleidungslieferketten zu verbannen, und der Bericht „Fast Fashion Purchasing Practices in the EU“ enthält eine Reihe von Empfehlungen zu diesem Zweck. Die FTAO und die CCC Europe fordern:

  • Zahlung der Bestellungen innerhalb von 60 Tagen
  • Preise, die die Produktionskosten decken und existenzsichernde Löhne für die Arbeiter garantieren
  • Entschädigung für Auftragsänderungen
  • und eine klare Definition der Risikobedingungen und des Eigentums an den Waren.

 

Zu den Empfehlungen gehört auch die Aufforderung an die Europäische Union, eine Richtlinie zu verabschieden, die unfaire Handelspraktiken im Bekleidungssektor, wie Zahlungsverzug und Preise unter den Produktionskosten, verbietet, eine wirksame Durchsetzung gewährleistet und detaillierte Anleitungen dafür liefert, wie Marken und Einzelhändler Folgendes sicherstellen und einhalten können: Vereinigungsfreiheit, Tarifverhandlungen und existenzsichernde Löhne in ihren Lieferketten.

Hintergrundinformationen:

Der Bericht in englischer Sprache

Made in Europe – Die ungeschminkte Wahrheit

Beitragsbild: Fabrik Orljava, Kroatien, 2018